
Die Covid-19-Pandemie hat die Telemedizin unabdingbar gemacht und sie bekam so die Chance, ihre Vorteile für die Gesundheitsorganisationen aufzeigen. Ob sich nun die Nutzung telemedizinischer Dienstleistungen in der Post-COVID-19 Zeit weiter durchsetzten kann, wird sich zeigen . (Foto: Shutterstock)
In der Schweiz, die bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens immer noch hinterherhinkt, war Telemedizin noch nie so populär wie heute. Doch lässt sich dieser Erfolg nur auf die Pandemie zurückführen? Welche weiteren Faktoren spielen bei der Adaption von Telemedizin in Schweizer Gesundheitsorganisationen eine Rolle? Diesen Fragen ging eine kürzlich veröffentlichte Masterarbeit an der Universität Bern nach; die Resultate erbringen ein praktisches und pragmatisches Verständnis für die Einführung von Telemedizin in Gesundheitsorganisationen.
Telemedizin – Was ist das?
Telemedizin umfasst die gesamte Praxis der medizinischen Versorgung, von der Konsultation durch eine medizinische Fachkraft online oder per App, bei der Gespräche und Diagnosen beispielsweise per Telefon, Video oder mittels Bilder erfolgen können, bis hin zur eigentlichen Behandlung, Gesundheitsaufklärung und Übertragung medizinischer Daten.
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Plötzlicher Erfolg der Telemedizin nach jahrzehntelangen Diskussionen
Mit dem Ausbruch der Pandemie in der Schweiz mussten rasch Lösungen gefunden werden, die es Patienten und Patientinnen und dem Pflegepersonal ermöglichten, ohne Ansteckungsgefahr weiterhin zu interagieren. Da sich Telemedizin bereits bei früheren akuten respiratorischen Infektionskrankheiten bewährt hatte, wurde sie ebenfalls bei der Bekämpfung von COVID-19 umfassend eingesetzt – auch in der Schweiz. Beim Umgang mit übertragbaren Krankheiten wie COVID-19 ist die Fernberatung daher ein Schlüsselfaktor, um den Kontakt und die Ansteckung von Mensch zu Mensch zu vermeiden.
Ist Telemedizin ohne Pandemie denkbar?
Vor der COVID-19-Pandemie hinkte die Telemedizin in der Schweiz im internationalen Vergleich stark hinterher. 2018 belegte unser Land bei der digitalen Innovation den viertletzten Platz [1], während sich die Nutzung der Telemedizin in der Schweiz seit 2014 prozentual kaum verändert hatte und nur in wenigen Fällen zur medizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten eingesetzt wurde [2]. Diese Situation veränderte sich plötzlich mit dem Ausbruch der Pandemie: Zahlreiche Autoren und Autorinnen stellen fest, dass die COVID-19-Lage beschleunigend für den Übergang von Gesundheitsorganisationen zur virtuellen Versorgung gewirkt hat. Doch trotz jüngster Belege für den Erfolg von Telemedizin und ihrer veränderten Nutzung durch Gesundheitsorganisationen, unterliegt die Digitalisierung im Gesundheitswesen weiterhin verschiedenen strukturellen, organisatorischen und institutionellen Barrieren, die fest im Gesundheitssystem verankert sind und somit zu Fragmentierung und Silodenken führen. In einer Post-COVID-19-Ära, in der ein beträchtlicher Teil der Gesundheitsdienstleistungen wahrscheinlich weitgehend digital bleiben wird, ist es daher von zentraler Bedeutung, Faktoren zu identifizieren, die die Entscheidungen über die Einführung von Technologien beeinflussen. Diese sollen sicherstellen, dass die Gesundheitsorganisationen über die Krisenbewältigung hinausgehen und eine klarere und gezieltere Planung des Telemedizineinsatzes vornehmen können.
Nutzen und Benutzerfreundlichkeit prognostizieren die Adaption von Telemedizin
Um die Faktoren zu ermitteln, die die Einführung der Telemedizin in Schweizer Gesundheitsorganisationen vorhersagen, stützte sich die Studie an der Universität Bern auf die Ergebnisse von P. J.-H. Hu et al. (2002) und ihrer explorativen Studie über die Einführung von Telemedizin in Gesundheitseinrichtungen in Hongkong. In dieser Referenzstudie identifizierten die Autoren sechs Faktoren, die zur gezielten Einführung der Technologie beitragen:
- wahrgenommenen Nutzen der Dienstleistung (perceived service benefits, PSB)
- wahrgenommene Risiken der Dienstleistung (perceived service risks, PSR)
- wahrgenommene Bedürfnisse der Dienstleistung (perceived service needs, PSN)
- kollektive Einstellung des medizinischen Personals (collective attitude medical staff, CAM)
- wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit (perceived ease of use, PEOU)
- wahrgenommene Sicherheit der Technologie (perceived technology safety, PTS)
Durch eine spezifische statistische Analyse wurden diese Ergebnisse dann von der Autorin der Masterarbeit auf die Schweiz übertragen.
Signifikante Resultate wurden insbesondere für die beiden Faktoren perceived service benefits PSB (Nutzen) und perceived ease of use PEOU (Benutzerfreundlichkeit) ermittelt. PEOU zeigte einen negativen und signifikanten Effekt auf die Adaption von Telemedizin auf. In anderen Worten: Die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit spielt eine umso geringere Rolle, je fortgeschrittener eine Organisation in der Einführung der Technologie ist. Dieses Ergebnis deutet auf einen engen Zusammenhang zu Erfahrungen hin: Je länger Telemedizin in einer Organisation benutzt wird, desto stärker sind die Nutzer und Nutzerinnen mit der Technologie vertraut, was dazu führt, dass sie die Aufgabe und die Technologie als einfacher empfinden als zu Beginn eines Adaptionsprozesses. PSB wirkte sich signifikant positiv auf die Adaption von Telemedizin aus, was bedeutet, dass eine Gesundheitsorganisation eher Telemedizin einführen wird, je höher sie den Nutzen der Technologie wertet. Diese Ergebnisse stehen interessanterweise im Gegensatz zu früheren Studien, die keinen signifikanten Effekt von PSB feststellten. Wenn es einst an Wissen über Telemedizin mangelte und deren potenzielle Adaption hauptsächlich von anderen Erwägungen bestimmt wurde, wie z. B. klinische Machbarkeit, Erforschung der Technologie und Verbesserung des beruflichen Status, haben diese Überlegungen zwei Jahrzehnte und eine globale Pandemie später keine Gültigkeit mehr: Durch die COVID-19-Pandemie wird die Telemedizin in die Routinepraxis aufgenommen, da sie nun als konkreter Vorteil für medizinische oder gesundheitsbezogene Fragen wahrgenommen wird.
So what? – Praktische Implikationen
Die Verbindung zwischen PEOU und Erfahrung lässt auf eine höhere Gewichtung von individuellen Überzeugungen über die Technologie und die Technologienutzung schliessen: Bei der Einführung einer neuen Technologie, die einfach zu bedienen ist, sollte in einer Organisation den individuellen Unterscheidungsvariablen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Erfahrene Ärzte und Ärztinnen könnten beispielsweise dazu ermutigt werden, ihre Erfahrungen mit der Telemedizin mit unerfahrenen Medizinern zu teilen, um damit eine positivere Einstellung zur Nutzung von Telemedizin zu fördern und die Akzeptanz von Telemedizin in ihrer Organisation zu steigern. Der positive Effekt von PSB zeigt zudem, dass Telemedizin im Zuge des digitalen Wandels besser anerkannt wird und deren Vorteile besonders nach der COVID-19-Pandemie einen höheren Stellenwert geniessen.
Die Digitalisierung hat in jüngster Zeit in allen Bereichen der Gesellschaft und Wirtschaft enorme Fortschritte ermöglicht. Im Gesundheitswesen kämpft die Digitalisierung hingegen noch um ihren Durchbruch. Mit der COVID-19-Pandemie und der Tatsache, dass physische Nähe nicht oder nur begrenzt möglich ist, ist heute ein neuer Trend zu beobachten, bei dem die Telemedizin in grossem Umfang genutzt wird, um Patienten und Patientinnen von der Ferne medizinisch behandeln zu können. Die Nutzung telemedizinischer Dienstleistungen in der Post-COVID-19 Zeit ist jedoch noch ungewiss. Die Studie an der Universität Bern zielte daher genau darauf ab, diejenigen Faktoren zu identifizieren, die die Entscheidungen über die Einführung von Telemedizin in Schweizer Gesundheitsorganisationen bestimmen, um die Bereitschaft der Schweizer Ärzte zur Einführung der Telemedizin auch ausserhalb der Krise richtig darzustellen.
Eckdaten:
- Erhaltene Antworten: 135
- Stichprobe nach Datenbereinigung: 77
- Datenerhebung: online-Fragebogen an Schweizer Kantons- und Unispitäler, via spitalinterne/r Informant/in vermittelt; Zielgruppe: Ärzte und Ärztinnen
- Beobachtungsperiode: 29. Dezember 2020 – 21. Februar 2021
- Statistische Analyse: Confirmatory Factor Analysis und Path Analysis via logistische Regression
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[1] Thiel et al., 2018, S. 225
[2] gfs. Bern, 2020, S. 27