Michael Jordi vertritt die Gesundheitsdirektoren der Schweizer Kantone. Deren Konferenz, die Jordi als Generalsekretär leitet, wurde in der Corona-Pandemie zu einem wichtigen Sparringpartner des Bundesrates. (Foto: zvg)
Michael Jordi, was heisst für Sie Macht*?
Michael Jordi: Entscheidungen beeinflussen zu können, aber auch Prozesse zu gestalten, die zu Entscheidungen führen. Die Gespräche, mit denen das geschieht, sind manchmal ebenso viel wert wie die Entscheidung selber. Das Denken in Varianten gehört dazu. Um den Einfluss wirklich wahrnehmen zu können, braucht es ein Beziehungsnetz – nach 20 Jahren kenne ich die Gesundheitscommunity aus dem Effeff – aber auch Fakten, Wissen und wohl auch Überzeugungskraft.
Wie gross ist der Einfluss der Kantone im Gesundheitswesen?
Jordi: Das hängt davon ab. Gemäss Verfassung ist der Bund zuständig für die Krankenversicherung, für Epidemien, für das Internationale und für die Bildung. Alles andere, vor allem die Versorgung, ist Sache der Kantone. Es sind diese Fragen, die den Bürger interessieren: Von welchem Arzt, in welchem Spital kann ich mich behandeln lassen, welche Reha-Klinik kann ich besuchen? Die Gestaltungsmöglichkeit der Kantone ist hier sehr gross. Aber im kapillaren Geflecht des Schweizer Gesundheitswesens wird sie durch die nationale Gesetzgebung eingeschränkt. Das KVG hat sich von einem Krankenversicherungsgesetz zu einem Gesetz zur Gestaltung des Gesundheitswesens gewandelt, obschon das eigentlich in der Kompetenz der Kantone läge.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Jordi: Im KVG steht, an welche Grundsätze sich die Kantone bei der Spitalplanung zu halten haben. Mit der Krankenversicherung hat das rein gar nichts zu tun, oder nur indirekt über die Kosten. Diese Einflussnahme haben die Kantone dannzumal nicht besonders geschätzt, da hat sich das Parlament durchgesetzt. Die Macht der Kantone hängt aber noch von einer weiteren Frage ab.
Wovon denn?
Jordi: Wer sind die Kantone: Sind es die Gesundheitsdirektoren, die Kantonsregierungen oder die kantonalen Parlamente? Oder ist es die Kantonsbevölkerung, die an der Landsgemeinde befand, sie wolle das Spital Appenzell nicht schliessen, sondern in einen Umbau investieren. Doch die Regierung erachtete die Folgekosten als zu hoch. Also ging sie kürzlich wieder vors Volk mit dem Vorschlag, Kooperationslösungen mit St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden zu suchen. Auch diese Antwort auf die Frage nach der Macht der Kantone fällt differenziert aus.
Hat die Corona-Pandemie die Kantone geschwächt, weil der Bund meist das Heft in die Hand nahm?
Jordi: Das glaube ich nicht. Es gibt verschiedene Aspekte der Krisenbewältigung, bei denen das föderale System seine Stärken gezeigt hat – ebenso wie es Bereiche gibt, in denen man Optimierungsbedarf sieht.
Wo orten Sie die Stärken?
Jordi: Die Gesundheitsversorgung konnte rasch auf den Krisenmodus reagieren, und zwar nicht einfach, weil es der Bundesrat beschloss, sondern auch, weil die Kantone und teils die Spitäler schnell reagierten und einander aushalfen. Sie fuhren die Kapazitäten bei den Covid-19-Behandlungen hoch und senkten sie bei den Wahleingriffen.
Lange wusste man aber nicht einmal, wie viele Intensivbetten es im Land gibt.
Jordi: Diese Information ist ja primär im Krisenfall wichtig. Die Frage lautet, welche Daten man quasi täglich auf Vorrat erhebt, damit man jederzeit weiss, wie viele Intensivbetten gerade frei sind. Und wie man jemanden in einem Spital überzeugt, diese Werte Tag für Tag einzugeben, obwohl sie nicht gebraucht werden. Dann braucht man die Daten aber plötzlich, von einer Woche auf die andere.
Sie sehen da kein grosses Problem?
Jordi: Doch, gerade im Bereich der Dokumentation und Statistik hat das Schweizer System seine Schwächen offenbart. Da muss man sicher reagieren. Aber die Tatsache, dass alle Patientinnen und Patienten rasch einen Behandlungsplatz bekommen haben, auch auf der Intensivstation, ist für mich Ausdruck eines funktionierenden Föderalismus. Auch im Krisenfall liegt die Entscheidkompetenz nicht in Bern allein, sondern es kommen eingespielte Kooperationsabmachungen zwischen Spitälern und Kantonen zum Tragen. Und die haben bestanden.
In der zweiten Welle im letzten Herbst galten in der kleinräumigen Schweiz viele unterschiedliche Regimes, worauf eine wahre Völkerwanderung in die liberaleren Kantone einsetzte. Hätte man das nicht besser abstimmen können?
Jordi: Es stimmt, die Koordination war nicht immer optimal. Auf der anderen Seite waren die Ansteckungszahlen in gewissen Phasen regional stark unterschiedlich. Da hätte man einem Urner erklären müssen, warum er nicht mal auf die Terrasse eines Restaurants darf, obwohl sein Kanton doch ein leeres Spital und nur eine Handvoll Infektionen pro Tag hatte. Das wäre nicht verstanden worden, und wenn die Leute eine Massnahme nicht verstehen, halten sie sich auch nicht daran. Fallen die regionalen Unterschiede aber weg, muss der Bund wieder stärker übernehmen.
Länder wie Dänemark oder Israel, welche die Daten schon zentralisiert und digitalisiert hatten, waren im Vorteil. Kann sich die Schweiz davon ein Stück abschneiden?
Jordi: Sicher, in der Schweiz gibt es noch kein elektronisches Patientendossier, das harzt. Wir haben aber nun mal keine militärische politische Struktur wie Israel, dessen Regierung mit Pfizer Verträge abschliessen kann und im Gegenzug umfangreiche Gesundheitsdaten liefert. Und Dänemark ist dank seines zentralen Gesundheitssystems in der Digitalisierung sehr viel weiter als die Schweiz. Ich bin aber überzeugt, dass wir aus den IT-Tools, die für das Contact Tracing, die Impfanmeldung und die Dokumentation der Ansteckungen entwickelt wurden, Erkenntnisse ziehen werden. Ziel sollte ein einheitliches Erfassungs- und Meldesystem sein.
Beim elektronischen Patientendossier kam man aus Angst vor dem gläsernen Patienten lange nicht vom Fleck. Werden jetzt die Vorteile sichtbar?
Jordi: Ich glaube schon, dass die Krise vielen gezeigt hat, was ein schneller Zugriff auf die eigenen Daten bewirken kann, und dass sich das auch auf das Patientendossier überträgt. Mit einer IT-basierten Lösung wie dem Covid-Zertifikat kommt man sehr viel schneller zu einem Ergebnis. Es ist ja immer eine Gratwanderung zwischen dem Datenschutz, der bei uns sehr ausgeprägt ist, und der Geschwindigkeit und Zugänglichkeit von Informationen.
Es wurden so schnell Massnahmen ergriffen, wie sonst nie im Gesundheitswesen.
Jordi: Es ist ein Kennzeichen der Krise, dass schnell Entscheidungen gefasst werden müssen, teils gestützt auf Informationen, die man im Normalfall als ungenügend erachten würde. Weil man schnell handeln muss, nimmt man auch einmal die nicht perfekte Lösung in Kauf – das ist für die Schweiz schon etwas speziell. In einer Krise hat die Improvisation eine viel höhere Akzeptanz als im Normalfall. Das Verständnis gegenüber den Behörden war am Anfang recht hoch, obschon nach einer ersten Phase des Zusammenhalts die Kritik einsetzte. Das ist verständlich, nur hat man es ein bisschen auf die Spitze getrieben, was auch den Kantonen etwas zu schaffen gemacht hat.
Inwiefern?
Jordi: Da wurde zum Beispiel fast im Tagestakt verglichen, wer jetzt die Impfkönigin und der Impfkönig sei. Nach zwei Monaten ist es plötzlich umgekehrt. Der Kanton Bern lag lange fast am Schluss und rangiert in der neusten Rangliste auf den vorderen Plätzen. Benchmarks, so sie denn das Richtige miteinander vergleichen, führen nicht immer zu vernünftigen Reaktionen.
Was wird von den raschen Lösungen bleiben, wenn wir wieder die Masken abziehen und zur Normalität zurückkehren?
Jordi: Wir sehen es am Parlamentsbetrieb, der jetzt sehr schnell wieder ins Schema zurückgefallen ist und dem Bundesrat nicht mehr die lange Leine lassen will: Die Bedürfnisse, die Dinge selber steuern zu wollen, kommen sehr rasch wieder. Deshalb rechne ich nicht mit einer Beschleunigung der kommenden Gesetzgebungsprozesse.
Nicht einmal beim elektronischen Patientendossier?
Jordi: Dort würde für mich eine Revision des Gesetzes anstehen, die es auf eine Grundlage stellt, die auch wirklich etwas taugt. Persönlich finde ich das Gesetz einfach schlecht. Die Verantwortlichkeiten sind nicht klar definiert, die Ärzte müssen nicht mitmachen, und die Zertifizierung wurde falsch aufgezogen.
Wie hat die Pandemie Ihren Arbeitsalltag verändert – sind die Arbeitstage länger geworden?
Jordi: Ja, eindeutig. Der Druck ist fast grösser als am Anfang, denn parallel zur Bewältigung der Pandemie hat der Alltag wieder begonnen. Damit meine ich Fragen wie die einheitliche Finanzierung von ambulant und stationär oder den Vollzug der Zulassungsbeschränkungen bei den Ärzten. Dort gilt ab 1. Juli ein anderes gesetzliches Regime, das die gleichen Kantonsärzte, die jetzt an vorderster Front die Pandemie bekämpfen, für die Regulierung zuständig macht. Dazu kommen Fragen abseits der grossen Aufmerksamkeit, etwa wer wieviel an welche Materialien in den Pflegeheimen und bei der Spitex zahlt.
Haben Sie zusätzliches Personal bekommen?
Jordi: Nein, wir sind weiterhin 24 Personen, einschliesslich Projektarbeit, Sekretariat und Übersetzung. Sieben Personen beschäftigen sich mit der Konzentration der Hochspezialisierten Medizin – dort verfügt die GDK Leistungsaufträge. Wir sagen, wo Cochlea-Implantate gemacht, wo Herzoperationen vorgenommen oder schwere Verbrennungen behandelt werden. Wir machen den ganzen Planungsprozess, was viele Ressourcen bindet.
Wie lang sind Ihre Arbeitstage: 10 oder mehr Stunden?
Jordi: Ja, in dieser Grössenordnung. Häufig auch an den Wochenenden, wobei ich schaue, dass zumindest ein Tag coronafrei ist. Die Beanspruchung ist stark, aber meinen Chefinnen und Chefs geht es ja gleich. Als die Arbeitslast meiner Partnerin abnahm, weil sie das Präsidium der Grünen abgeben konnte, schnellte es bei mir in die Höhe.
Wer hat eigentlich mehr Einfluss: Sie im Zentrum der kantonalen Gesundheitsmacht oder Ihre Partnerin Regula Rytz als Nationalrätin und ehemalige Präsidentin der Grünen?
Jordi: Beide, aber in anderen Bereichen. Regula prägt als Parlamentarierin politische Debatten in der Öffentlichkeit. Mein Einfluss besteht darin, dass ich versuche, unter anderem im Parlament die Haltung einzubringen, welche die Kantone vertreten sehen möchten. Sie hat ihr Netz in ihren Themen, und ich habe mein Netz, das von ihrem weitgehend unabhängig ist, in meinem Thema. Wobei mein Netz auch damit zusammenhängt, dass eine ganze Reihe kantonaler Gesundheitsdirektoren später in den Ständerat gewechselt haben. Oder dass Pierre Yves Maillard, der mal mein Präsident war, wieder im Nationalrat sitzt.
Ist Ihre Partnerin diejenige, die Ihnen privat am meisten widerspricht?
Jordi: Nein. Wir haben viele anregende politische Diskussionen. Aber in der Gesundheitspolitik führe ich die Debatten mit Gesundheitspolitikerinnen und -politikern oder Branchenvertretern. Inhaltliche, fachliche Debatten haben wir zuweilen auch innerhalb der GDK, etwa zwischen grossen und kleinen Kantonen. Wenn wir zum Beispiel Zürich mit Appenzell-Innerrhoden vergleichen, dann sind es knapp 1,6 Millionen Einwohner gegenüber 16'000, also ein Faktor 100. Und die haben die gleichen Aufgaben – in einigen Themen aber eine ganz andere Interessenlage.
Finden Sie aktuell die nötige Zeit, um aufzutanken?
Jordi: Ich versuche, mich in Bewegung zu halten. Sport ist in solchen Situationen wichtig, deshalb gehe ich auf die eine oder andere Skitour. Da kann ich zumindest halb abschalten, weil meist Handyempfang vorhanden ist und mir die neusten Ansteckungszahlen mitgeteilt werden. Wobei ich sonst Ausgleich finde, ist der Fussball, aber das darf ich seit mehr als einem Jahr nicht mehr. Da freue ich mich darauf, wenn das wieder möglich sein wird.
Zur Person:
Michael Jordi (61) startete nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und einem Nachdiplomstudium in Public Management seine berufliche Laufbahn beim Bundesamt für Sozialversicherung. Zehn Jahre lang war er Sekretär beim Verband des Personals öffentlicher Dienste, bevor er vor 20 Jahren zur Konferenz der Kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) wechselte. Seit einem Jahrzehnt ist er ihr Generalsekretär. Er lebt in Bern.
*In der Schaltzentrale der Macht
Sie sitzen auf entscheidenden Positionen, aber selten im Rampenlicht: Generalsekretäre von Parteien oder eidgenössischen Departementen, Geschäftsführerinnen von Verbänden oder Direktoren von Nichtregierungsorganisationen. Braucht die Schweiz politische Lösungen, helfen sie diese zu entwickeln. In regelmässigen Abständen wollen wir im Gespräch die Schaltzentralen der Macht ausleuchten.