
Der amerikanische Politikwissenschafter Henry Kissinger, der zwischen 1969 und 1977 als Sicherheitsberater und Aussenminister die Weltpolitik geprägt hatte wie kaum ein zweiter, geniesst heute noch Kultstatus. Seine Analysen sind nach wie vor scharfsinnig und lassen aufhorchen. So äusserte er sich kürzlich in zwei viel beachteten Interviews in Bloomberg und der Welt besorgt über die gegenwärtige Entwicklung der Weltpolitik: «Amerika und China driften zunehmend in eine Konfrontation. Wenn es keine Grundlage für kooperatives Handeln gibt, wird die Welt in eine Katastrophe geraten, die mit dem Ersten Weltkrieg vergleichbar ist.»
Kissinger meint damit: Wenn der Westen und China nicht zu einer Balance zwischen Konflikt und Kooperation finden, wenn sich nicht bald ein Mechanismus herausbildet, der hilft, Interessensunterschiede auszutarieren, dann droht eine Situation vergleichbar mit jener, die zum Ersten Weltkrieg geführt hatte.
Wie und wo sich diese Gegensätze manifestieren und was auf dem Spiel steht, hat der Blog MorningBriefing von Gabor Steingart mit drei Charts illustriert. Sie zeigen auf, wie China punkto Wirtschaftskraft, Allianzen und Markt nicht nur zu den USA aufgeschlossen, sondern die einstige Weltmacht schon fast überholt hat. Dabei fällt auf, wie die Bedeutung der EU zwischen den beiden Blöcken schwindet und die Bedeutung von Europa als Wirtschaftsfaktor allmählich erodiert.
Nachdenklich stimmen sollte namentlich das asiatisch-pazifische Handelsabkommen, das massgeblich von China vorangetrieben und zwei Wochen vor Trumps Niederlage bekannt wurde. Das Abkommen, das von 15 Staaten unterzeichnet wurde, verringert Zölle, legt gemeinsame Handelsregeln fest und erleichtert damit auch Lieferketten. Es umfasst die Bereiche Handel, Dienstleistungen, Investitionen, E-Kommerz, Telekommunikation und Urheberrechte.
Die USA haben es verpasst, zusammen mit einstigen Freunden wie Australien, Neuseeland oder Südkorea, die nun mit China zusammenspannen, eine ähnlich starke Werte-, Interessen- und Handelsgemeinschaft zu gründen. Ebenso wenig ist ein Abkommen zwischen den USA und Europa zustande gekommen. Während die Regierung in Peking einen wichtigen geopolitischen Erfolg verzeichnet und ihren globalen Macht- und Führungsanspruch zementiert, hadert die westliche Welt nach vier Trump-Jahren vor allem mit sich selber. Aus «America First» wurde ein «America Alone» – womit wir bei den verheerenden Folgen wären, die eine isolationistische Politik der USA im 20. Jahrhundert für den Rest der Welt gehabt hätte. Deshalb dürfen wir die Worte des visionären Henry Kissinger nicht auf die leichte Schultern nehmen.